Lothar Letsche (Stuttgart, Tübingen)

Der Betreiber dieser Website – auf diesem Foto als Redner einer Kundgebung in Stuttgart am 17.02.2016 - hat in Baden-Württemberg einiges erlebt, was die Forderung nach „Freiheit im Beruf – Demokratie im Betrieb!“ unterstreicht. (Falldarstellung für den „Runden Tisch“ in Baden-Württemberg am 19.06.2015  Redebeitrag beim „Runden Tisch“  - Interview am 28.01.2016 (dem 44. Jahrestag des "Radikalenerlasses") mit Radio Dreyeckland,  Freiburg (pdf) - mp3-Datei: in der Mediathek des Senders  lokal - Referat im Münchner Gewerkschaftshaus am 29. Juni 2017 über den ZDF-Film „Geschichte Treffen. Gesinnung im Visier - der Radikalenerlass 1972“ und seinen eigenen Fall - Interview mit der Forschungsgruppe zum „Radikalenerlass“ an der Universität Heidelberg am 6. März 2020 - Online-Videokonferenz des „Gesprächskreises Bargteheide“ (Schleswig-Holstein) am 11. August 2020

 

Teil 1 - 1977: Berufs- und Ausbildungsverbot als Lehrer

 

Ein Ausbildungsverbot als Studienreferendar für das Lehramt an Gymnasien wurde 1982 vom Bundesverwaltungsgericht in letzter Instanz für rechtskräftig erklärt. In Dokumentationen von 1978, 1979 und 1981 können Details dieses Verfahrens nachgelesen werden. Ohne alles dort Wiedergegebene zu wiederholen (und zum Teil ergänzend) nur einige Schlaglichter:

 

 

Der Klageabweisungsantrag des Landes vom 8.1.1978 empörte die GEW so, dass sie ihn in ihrer „Lehrerzeitung Baden-Württemberg“ 12-13/1978 abdruckte. Obwohl anonymisiert, wurde sie in der Personalakte des Betroffenen abgeheftet.

 

Berufsverbot? Die Nichtzulassung zum Referendardienst wurde ausdrücklich damit begründet, dass L.L. weder an öffentlichen noch an privaten Schulen Baden-Württembergs (die ja auch der staatlichen Schulaufsicht unterstehen) jemals Lehrer werden könne (Zitate aus dem entsprechenden Urteil). Wohlgemerkt: er hat dort niemals an einer Schule gearbeitet und sich schon gar nichts zuschulden kommen lassen ...

 

„Verfassungsfeind?“ Seine bis heute unveränderte Haltung zum Grundgesetz – auch zum Vorwurf einer „selektiven“ Sicht auf die Verfassung“ (weil er den Artikel 139 des Grundgesetzes heranzog) - erläuterte L.L. sehr ausführlich dem Oberschulamt und zweimal vor Gericht. Er gehörte zu jenen, denen (ohne dieses Wort zu benutzen) der FDP-Abgeordnete Hinrich Enderlein (geb. 1941) in der Landtagsdebatte am 21.09.1978 (S. 3761) und einem Kommentar in der GEW-„Lehrerzeitung“ (19/1978) bescheinigte, dass sie „Verfassungsfreunde“ seien. (Er übernahm dann 1981 auch zusammen mit dem katholischen Theologen Prof. Dr. Norbert Greinacher (geb. 1931) eine „Patenschaft“ für Klaus Lipps und Lothar Letsche und teilte dies auf einer Pressekonferenz der „GEW-Kommission Unterdrückung demokratischer Rechte und Freiheiten“ mit.)

Nein, es ging um etwas ganz Anderes: „Zur Eignung … gehört seit jeher die politische Loyalitätspflicht des Beamten“. Seit jeher! Also auch 1933 …

Lothar Letsches Vater Curt Letsche (1912-2010) hatte als Nazigegner 1938 sein Geschäft als Buchhändler aufgeben müssen und saß als politischer Gefangener 1940-45 im Zuchthaus Ludwigsburg.

 

„Einzelfallprüfung“? Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 31.03.1981 lag - wie später nachgewiesen wurde - schon vor der Verhandlung fertig geschrieben vor. Praktisch wortgleich mit anderen Urteilen. Die Schorndorfer Nachrichten berichteten am 15.06.1981 darüber.

 

Was tat die Gewerkschaft? In diesem Verfahren gewährte die GEW nicht nur Rechtsschutz, sondern auch politische Unterstützung. Am 31.03.1981 in Mannheim war nicht nur der ehemalige Vorsitzende der britischen Hochschullehrergewerkschaft NATFHE Jack Tyrrell anwesend, sondern auch Siegfried Vergin (1933-2012), der damalige Vorsitzende der GEW Baden-Württemberg.

Also, bei aller heute notwendigen und berechtigten Selbstkritik der GEW an ihrem damaligen Umgang mit der Berufsverbotspolitik: Es gab Solidarität und sie wurde auch dringend gebraucht.

 

Welchen Beitrag "die mutigen Studenten vom RCDS" geleistet hatten, fragte in einem Brief vom 01.07.1979, den das Journal des Sozialistischen Hochschulbunds (SHB) abdruckte, seine Mutter Lotte Letsche (1911-1996). Fakt ist, in Lothar Letsches Personalakte beim Oberschulamt Stuttgart ist nicht etwa eine Kopie, sondern das Original eines AStA-Info abgeheftet, in dem über seinen Fall berichtet wurde. Übrigens auch studentische Resolutionen aus vier Lehrveranstaltungen der Universität Stuttgart im Februar 1979, originell, differenziert und heute noch lesenswert, die per Einschreiben an das Oberschulamt geschickt wurden.

 

Natürlich musste jeder Betroffene nun erst mal sehen, wo er blieb. L.L. fand ab 1978 in Dortmund Arbeit als Redakteur für Schulbücher für den Englischunterricht. Der erste Prozess vor dem Stuttgarter Verwaltungsgericht fand „zufällig“ während der Probezeit statt. Es ging aber gut.

1980 informierte er auf einer Rundreise durch Schottland und England auf Veranstaltungen der dortigen Solidaritätskomitees (meist vor gewerkschaftlichem Publikum) über seinen „Fall“ und die Berufsverbotspolitik (englischsprachige Materialien). Die VVN-BdA machte diesen „Fall“ im Februar 1981 in französischer Sprache auch in Frankreich bekannt.

L.L. bewarb sich auch in Nordrhein-Westfalen als Studienreferendar - und hätte im Herbst 1980 in Wuppertal anfangen können. Es gab aber familiäre Gründe, in seine Heimat Baden-Württemberg zurückzukehren.

 


Teil 2 - 1981: Aus Anwendung eines Tarifvertrags besondere „Treuepflicht“ abgeleitet

 

Anfang 1981 trat L.L. eine Stelle als wissenschaftlicher Angestellter am „Deutschen Institut für Fernstudien der Universität Tübingen“ (DIFF) an. Das war – trotz des Namens – eine privatrechtliche Stiftung mit eigenem Betriebsrat. Die Berufungsverhandlung wegen der Lehrerausbildung – die seit 1978 auf Eis gelegen hatte – fand nun „zufällig“ wieder in der Probezeit statt. Nach der Verhandlung – Mitte Juni 1981 – wurde der DIFF-Direktor ins Stuttgarter Wissenschaftsministerium zitiert und ultimativ aufgefordert, diesem Angestellten zu kündigen, damit er nicht an Fortbildungsmaterialien für Lehrkräfte mitarbeiten könne.

 

Die Kündigung wurde am letzten Tag der Probezeit ausgesprochen, aber vom Arbeitsgericht für unwirksam erklärt. L.L. hatte bei einer zwischenzeitlich erfolgten Betriebsratswahl als Wahlvorstand amtiert, was ihm einen zu diesem Zeitpunkt noch nachwirkenden sechsmonatigen Kündigungsschutz verschaffte.

 

Am 13.08.1981 wurde nochmal ein Institutsvertreter ins Ministerium zitiert. Noch einmal kündigen – „breitgestreut mit Schrot schießen“ – wurde ihm als Devise mitgegeben. Auch „die anderen am DIFF tätigen Kommunisten“ brachte der anwesende „Experte für Extremistenfragen zur Sprache. Der Aktenvermerk dieser Besprechung ist ein wirklich aufschlussreiches Dokument, wer in Sachen Berufsverbot wem wie die Marschrichtung und die Sprachregelungen vorgab. Mit der Umsetzung wurde auch eifrig begonnen. Nach einigen eher peinlich ausgefallenen öffentlichen Verlautbarungen des Direktors begann man, den Betroffenen mit Schreiben und Gesprächen zur angeblich unzureichenden Qualität seiner Arbeit einzudecken. Vom politischen Hintergrund war plötzlich keine Rede mehr.

 

Doch obwohl das DIFF zum Geschäftsbereich des baden-württembergischen Wissenschaftministeriums des CDU-Ministers Prof. Dr. Helmut Engler (1926-2015) gehörte, hatte der nicht alleine das Sagen. 50 % der Finanzierung kamen vom Bundesbildungsministerium. Das befand sich in jener Zeit – noch herrschte die „sozialliberale Koalition“ unter Bundeskanzler Helmut Schmidt (1918-2015) – unter der Leitung des SPD-Politikers Björn Engholm (geb. 1939). Die SPD fuhr zu jenem Zeitpunkt auf Bundesebene in Sachen „Radikalenerlass“ die Linie, problematisch sei eigentlich nur, wenn die Betroffenen (z.B. bei Bahn und Post) Beamte werden oder bleiben wollten. Im Angestelltenverhältnis würde man sie in Ruhe lassen. Bei der Bundesbahn gab der zuständige SPD-Minister Volker Hauff (geb. 1940) einigen Betroffenen sogar entsprechende Garantien, während sich bei Bundespost-Betroffenen wie Hans Peter sein SPD-Ministerkollege Kurt Gscheidle (1924-2003) genau davor hütete. Jedenfalls passte eine solche Entlassung wie die Lothar Letsches, mit dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes begründet, worüber mittlerweile nach der Lokalpresse auch „Der Spiegel“ berichtet hatte (pdf), in diese Auseinandersetzung (die man natürlich auch als übles Spiel mit verteilten Rollen verstehen konnte) überhaupt nicht hinein. Außerdem sollte der Schein aufrecht erhalten werden, das DIFF sei gar kein „staatliches“, sondern eigentlich ein „privates“ Institut. Der DIFF-Vorstand wurde zurück gepfiffen, L.L. in einen anderen Bereich versetzt und erst mal tatsächlich in Ruhe gelassen.

 

1984 wurde Lothar Letsche in den Betriebsrat gewählt, dem er dann – mehrmals wiedergewählt, mehrere Jahre als Vorsitzender – bis zum 26.11.2001 angehörte. Die "privatrechtliche" Stiftung war im Frühjahr 2001 völlig umstrukturiert worden, die alte Belegschaft wurde überwiegend an Hochschulen und andere Landeseinrichtungen transferiert. Was von der einstmals viele Disziplinen umfassenden Tübinger Einrichtung blieb, war von von nun an das psychologisch ausgerichtete „Institut für Wissensmedien“ (IWM).

 

 

Teil 3 - 2003: Als Beisitzer einer Sozialplan-Einigungsstelle „außerordentlich gekündigt“

 

Am 18.05.2000 hatte der Landtag von Baden-Württemberg beschlossen:

„... alle vom sog. Radikalenerlass Betroffenen nach Einzelfallprüfung in den Landesdienst aufzunehmen, soweit diese aktuell einen Antrag auf Aufnahme stellen. In die Einzelfallprüfung werden auch die zum Zeitpunkt der Entfernung aus dem Dienst bzw. der Nichteinstellung gültigen Kriterien im Rahmen des rechtlich Möglichen einbezogen.

 

Damit hielten viele - etwas voreilig, wie wir heute wissen - das Thema „Radikalenerlass“ in diesem Bundesland für „ausgestanden“. Niemand konnte sich zu jenem Zeitpunkt vorstellen, was Michael Csaszkóczy dann ab Dezember 2003 widerfuhr. Und niemand machte sich zunächst Gedanken, was der zweite Satz jenes etwas verwaschenen Landtagsbeschlusses in der realen Umsetzung durch unbelehrbar ihren Kurs verfolgende Berufsverbieter möglicherweise bedeuten könnte.

 

Auf Lothar Letsches Arbeitsverhältnis wurde jedenfalls nach der Instituts-Umstrukturierung ein weiteres Mal „im Rahmen des (vermeintlich) rechtlich Möglichen„breitgestreut mit Schrot geschossen“. An seiner Arbeit gab es aber anscheinend nichts zu kritisieren. Politische Bezugnahmen erfolgten auch nicht – nur ein sehr präzises Timing.

26.11.2002 (exakt mit Auslaufen des nachwirkenden Kündigungsschutzes als Betriebsrat nach einem Jahr): „Abmahnung“ wegen eines anwaltlichen Schriftsatzes zum Anspruch auf Altersteilzeit.

11.03.2003: Außerordentliche Kündigung (vor allem) wegen Mitwirkung als Beisitzer in einer Sozialplan-Einigungsstelle nach dem Betriebsverfassungsgesetz, die nicht vom Arbeitgeber „genehmigt“ gewesen sei.

Die Rechtsabteilung des Wissenschaftsministeriums habe gesagt, eine solche Kündigung werde Bestand haben, wurde der (neue) Betriebsrat des IWM eingeschüchtert.

Dafür wurden auch gleich passende „Rahmenbedingungen“ geschaffen: Lothar Letsche musste sein Arbeitszimmer ausräumen (das Namensschild an der Tür wurde sofort durch „N.N.“ ersetzt), seine Schlüssel abgeben, faktisch (obwohl er nie Hausverbot bekam) dem Institut fernbleiben.

Dafür einen Vorwand zu haben, ihn damit zu zermürben – darum ging es in Wirklichkeit.

Die Solidarität der örtlichen Gewerkschaften machte es in dieser Zeit möglich, dass Lothar Letsche im Tübinger DGB-Büro einen Schreibtisch und ein Telefon bekam und von dort aus dem IWM seine Arbeitskraft anbieten konnte. Keine Zeitung erfuhr von dieser grotesken Episode, die über ein halbes Jahr dauerte. Das musste wohl - auch solche Situationen gibt es - einfach „ausgesessen“ werden.

Das Arbeitsgericht zerriss auch diese zweite, arbeitsrechtlich wirklich atemberaubende „Kündigung“ in der Luft. Unter anderem habe sie gegen „Treu und Glauben“ verstoßen.

 

Am 09.10.2003 kehrte Lothar Letsche ans IWM zurück. Gut zwei Monate später, wie gesagt, begann Michael Csaszkóczys Kampf für seine Einstellung als Lehrer. Die meisten, die davon erfuhren, hatten anfänglich zunächst nicht glauben wollen, dass es so etwas noch gebe. Lothar Letsche arbeitete weiter (und musste so tun), als wäre am IWM nichts geschehen. Sein letzter Arbeitstag war zwei Tage, bevor am 27.03.2011 die CDU-geführte Landesregierung Baden-Württembergs nach 58 Jahren abgewählt wurde. (Der erste CDU-Ministerpräsident war 1953 ein halbes Jahr nach seiner Einschulung an die Regierung gelangt.) Danach ging er regulär in Altersrente.

 

Demonstration für Michael Csaszkóczy, Mannheim 27.01.2007 (Foto: Thomas Trüten). Am 14.03.2007 gewann Michael in dieser Stadt seinen Prozess vor dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg und wurde danach endlich als Lehrer eingestellt.