Jürgen Kühling Statement zum 30. Jahrestag des RadikalenerlassesDer Radikalenerlass und die auf ihn folgenden Berufsverbote sind Beispiel der Sanktionierung und Ausgrenzung einer missliebigen, durch eine bestimmte Gesinnung oder Haltung gekennzeichneten Bevölkerungsgruppe, mit anderen Worten einer Gruppenverfolgung. Wir kennen diesen Begriff aus dem Asylrecht und verbinden damit die Vorstellung des klassischen politischen Flüchtlings aus einem Unrechtsstaat. Mit diesem Typus des Verfolgten sind die Opfer der Berufsverbote nach Art und Schwere der Verfolgung sicherlich nicht zu vergleichen. Es ging nicht um Leib und Leben, und jeder Betroffene konnte den Schutz unabhängiger Gerichte in Anspruch nehmen. Aber aus der zeitlichen Distanz zu den Ereignissen, von denen hier die Rede ist lässt sich erkennen, dass auch der Rechtsstaat zu gruppenspezifischen Verfolgungen fähig ist, dass selbst eine freiheitliche Verfassung keinen sicheren Schutz davor bietet. Das Bundesverfassungsgericht hat bekanntlich die Praxis der Berufsverbote bestätigt. Der Schlüssel zum Verständnis dieses scheinbaren Widerspruchs liegt in dem Legitimationsmuster, mit dem die Grundrechtseingriffe gerechtfertigt werden. Immer geht es um die Behauptung schwerster Gefahren für wichtige Gemeinwohlbelange. Mit den Berufsverboten sollte die Integrität des öffentlichen Dienstes, die Ideologiefreiheit des Unterrichts an öffentlichen Schulen und letztlich die demokratische Staatsverfassung selbst geschützt werden. Das sind ganz ohne Zweifel gewichtige Gründe, und es verwundert nicht, dass die Gerichte bis hin zum Bundesverfassungsgericht sich davon haben beeindrucken lassen. Im Nachhinein lässt sich nun gut erkennen, dass diese Gefahren stark überzeichnet worden sind. Die Radikalismen der damaligen Studentengeneration waren wenig mehr als zornige Überreaktionen junger Leute auf verkrustete Strukturen unserer Gesellschaft, auf borniertes Festhalten der etablierten Generation an überholten Vorstellungen und auf Missstände bei der Verteilung von Wohlstand und Macht. Die Erfahrung hat gelehrt, dass der Überschwang einer hyperkritischen Generation außerhalb des Campus rasch verflog und dass sich bei den meisten radikalen Systemkritikern, an den Schulen im Referendariat und anderswo im Berufsalltag, rasch eine gemäßigtere Weltsicht entwickelte. Ein Blick in Nachbarländer, die mit ihren jungen Radikalen weitaus nachsichtiger umgegangen sind, hätte uns dies alles schon damals erkennen lassen können. Man hätte auch schon damals wissen können, dass es an den Schulen keine realistische Chance für eine kommunistische Indoktrination gab. Kurzum: Die scheinbar drohende Gefahr war eine Schimäre. Der Rückblick lehrt auch, wie es zu der schwerwiegenden Fehleinschätzung kommen konnte: Die Furcht vor dem Kommunismus war tief verwurzelt. Der kalte Krieg gab ihr täglich Nahrung. Hinter dem Terrorismus der RAF und ihrer Nachfolger stand ein verblasener Sozialismus. Aus den Ängsten wuchs Hass, der Hass verlangte drastisches Zupacken. Mit den Berufsverboten schaffte der Staat ein Ventil für diese verbreitete Stimmungslage. Wir sehen jetzt, nachdrücklich belehrt durch ein Urteil des Europäischen Gerichts für Menschenrechte, dass die Berufsverbote ein Fehler, ja mehr noch, eine rechtsstaatliche Entgleisung waren. Mit noch größerem Kopfschütteln blicken wir auf Fehler, die weiter in der Vergangenheit zurückliegen. Als Beispiel will ich die Verfolgung der Homosexuellen nennen. Auch bei ihnen hat man Gefahren für das Gemeinwesen behauptet, die sich im Nachhinein als reine Konstrukte erwiesen haben. Im Jahre 1957 bestätigte das Bundesverfassungsgericht die Strafbarkeit der einfachen Homosexualität. Auf der Grundlage einer umfassenden Sachverständigenanhörung kam es zu dem Ergebnis, dass eine soziale Gefährdung nicht auszuschließen sei, die eine Bestrafung rechtfertige. Heute ist das schwer nachvollziehbar, aber man muss den Gerichten zugute halten, dass sie in der Beurteilung tatsächlicher Verhältnisse auf Sachverständige angewiesen sind und dem Gesetzgeber bei der Gefahrenprognose einen weiten Einschätzungsprärogative einräumen müssen. Ein weiteres Beispiel ist die Entscheidung zur Strafbarkeit des Cannabiskonsums aus dem Jahre 1994, bei der sich das Bundesverfassungsgericht ebenfalls mit einer fragwürdigen Gefahrenprognose auseinander zu setzen hatte. Den schwerwiegenden Fehlern, die Staat und Gesellschaft im Zusammenhang mit den Berufsverboten und mit der Bestrafung der Homosexualität begangen haben und die zu Menschenrechtsverletzungen geführt haben, liegt, das ist die Einsicht, die ich Ihnen vermitteln möchte, häufig in übertriebener, nicht selten auch geschürter Furcht vor einer Bedrohung, die sich bei nüchterner Betrachtung als grundlos oder jedenfalls weit übertrieben erweist. Darauf gilt es das Augenmerk zu richten, wenn wieder einmal Maßnahmen getroffen und Sanktionen verhängt werden, um ein übermächtiges Gefahrenpotential zu bekämpfen. Nur eine Kritik, die hier ansetzt, hat Aussicht, ernst genommen zu werden. Es nützt nichts, Grundrechtseingriffe zu beklagen, wenn man sich nicht ernsthaft und nüchtern mit den Gefahren auseinandersetzt, die die Eingriffe rechtfertigen sollen. Eine nüchterne, sachverständig fundierte Analyse einzufordern, kann dem Kritiker schwerlich verweigert werden. Ich weiß wohl, dass Experten leicht zur Hand sind, wenn es gilt, Zugriffe des Staates auf die Grundrechte der Bürger zu rechtfertigen. Populäre Vorurteile haben oft genug wissenschaftliche Fundierung erfahren, sei es, um die geistige Unterlegenheit der Frau und ihre mangelnde Eignung für akademische Berufe zu beweisen, sei es um rassische Verfolgung zu rechtfertigen, sei es um die Gemeingefährlichkeit des Cannabiskonsums zu begründen. Doch Sachverstand ist auch den Kritikern zugänglich und auf die Frage nach der Rationalität seiner Maßnahmen kann der Staat die öffentliche Antwort schlecht verweigern. Anlass zu solchen Fragen gibt es auch heute. Das Bundesverfassungsgericht wird sich mit ihnen im Zusammenhang mit dem anhängigen Parteiverbotsverfahren zu befassen haben. Ob die organisierte Kriminalität nach Art und Ausmaß die mit ihr begründeten Erweiterungen der strafprozessualen Eingriffsmöglichkeiten rechtfertigt, muss weiterhin Gegenstand kritischer Fragen sein. Und nicht anderes gilt schließlich auch für die Gefahren, denen mit den Antiterrorgesetzen begegnet werden soll. Der Schutz von Leib und Leben, von Freiheit und Eigentum seiner Bürger ist vornehmste Aufgabe des Staates. Das gilt vielleicht heute mehr denn je, wo die Macht immer mehr in private Hände gerät. Der Staat ist verpflichtet, die Grundrechte der Bürger auch vor Eingriffen durch Private zu schützen. Er ist ihr Verbündeter bei der Wahrung ihrer Freiheitsrechte. Aber es gibt auch die Gefahr einer Erosion der Grundrechte durch übermäßige innere Aufrüstung des Staates und seiner Apparate. Nach wie vor gibt es die Lust der Regierenden an der Erweiterung ihrer Befugnisse, nach wie vor unterliegen Politiker der Versuchung, Ängste zu schüren, um mit dem Versprechen drastischer Maßnahmen Stimmen zu gewinnen. Nach wie vor besteht also Anlass zu kritischer Aufmerksamkeit der Bürger. |