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Law and Order auf die sanfte Tour

Der "aktivierende Sozialstaat" der Neuen Mitte

Referat anläßlich der Konferenz "30 Jahre Berufsverbote", Samstag/Sonntag, 9./10.2.2002

Von Dirk Hauer, REGENBOGEN - Für eine neue Linke


Es ist bereits gesagt worden: Die Bereitschaft breiter Teile der Bevölkerung, Einschränkungen bei den bürgerlichen Freiheits- und Grundrechten hinzunehmen hat offenbar zugenommen, und zwar nicht erst seit dem 11. September 2001. Gleichzeitig gibt es offenbar ebenfalls seit längerer Zeit, eine zunehmende Bereitschaft, die offiziellen Feinderklärungen gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen - MigrantInnen, Flüchtlingen, SozialhilfeempfängerInnen, DrogenkonsumentInnen, Erwerbslose - zu akzeptieren und sich zu eigen zu machen. Die Frage, die ich hier diskutieren will ist die: Woher kommt diese Bereitschaft? Wieso wird "der Bürger als Sicherheitsrisiko" so bereitwillig akzeptiert? Und meine Antwort - sicher nicht die einzige in diesem Zusammenhang - verweist auf einen Formwandel von (Sozial-)Staat, der gerade auch in den Bereichen der sozialen Sicherheit und der Sozialversicherungssysteme zu einem autoritären System der repressiven Integration und Ausgrenzung geworden ist. Meine These ist, dass dieser neue autoritäre (Sozial-)Staat der Blair-Schröderschen Neuen Mitte der Nährboden für die furchtbare Blüte aller jetzt aktuellen Law-and-Order-Politiken ist.

Wolf-Dieter Narr hat einmal gesagt: "Vom Sozialstaat reden, ohne von innerer Sicherheit zu reden, war falsch, ist falsch und wird immer falsch bleiben." Und in der Tat: Die innere Formierung nach dem 11. September hängt genauso unmittelbar mit einem Formwandel des Sozialstaates zusammen wie der gesellschaftliche Durchmarsch von Sicherheit und Law and Order, wie er sich im Wahlerfolg eines Rechtspopulisten wie Schill niederschlägt. Ich werde im folgenden zum einen auf diesen Zusammenhang von Sicherheitsstaat und Sozialstaat eingehen. Zum anderen werde ich ein paar Thesen zum Formwandel des Sozialstaates zur Diskussion stellen. Denn, das möchte ich gleich voranstellen, was wir in den letzten Jahren erleben, ist nicht in erster Linie ein Abbau des Sozialstaates, sondern sein materieller Umbau und seine ideologische Umdefinition. Der neue, "aktivierende" Sozialstaat, ist eben nicht der neoliberale Nachtwächterstaat mit sozialer Deregulierung, sondern vielmehr Ausdruck einer autoritären Reregulierung des Sozialen. Und dieser Umbau hat wiederum jede Menge mit Sicherheitspolitiken und -ideologien sowie Repression zu tun. Er ist gewissermaßen die Grundlage, auf der ein neuer Autoritarismus gesellschaftlich konsensfähig wird.

Sozialpolitik und Sozialarbeit unterliegen immer der Dialektik von Hilfe und Kontrolle. Es ist kein Zufall, dass beide Disziplinen zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus dem Polizeiwesen hervorgegangen sind, am Anfang der modernen Sozialpolitik stand halt die präventive Aufstandsbekämpfung. Klaus Dörner, der ehemalige Leiter des Landeskrankenhauses Gütersloh und Wegbereiter der Psychatriereform in Deutschland, hat sehr eindrucksvoll gezeigt, daß die "soziale Frage" in der bürgerlichen Gesellschaft immer die Frage danach gewesen, wie mit denjenigen zu verfahren sei, die unter den Prämissen und Normen der Kapitalverwertung "nicht zu gebrauchen" sind. Bürgerliche Wohlfahrt ist immer die Antwort auf diese Frage gewesen. Ihr Klientel sind diejenigen, die den Normen von Arbeit, Produktivität und Leistung nicht oder nicht mehr genügen können oder wollen: Alte, Behinderte, Kranke, Erwerbslose, DrogenkonsumentInnen, BettlerInnen usw. Sie werden als "gefährliche Klassen" oder "Problemgruppen" definiert, vom gesellschaftlichen Kern abgespalten und einer ganzen Bandbreite gesonderter Maßnahmen unterzogen. Dort werden sie entweder "produktiv" oder aber unsichtbar gemacht. Wegsperren, polizeiliche Verteibung und andere Formen des polizeilich-repressiven Kontroll- und Ausgrenzungsarsenals sind dabei nur ein Pol in einem kontinuierlichen Spektrum, zu dem auch sozialpolitische Anstalten oder alle Formen der repressiv-normierend-helfenden Sozialfürsorge und -Betreuung gehören.

Also: Sozialstaatlichkeit und bürgerliche Wohlfahrt haben in sich immer das Element der (repressiven) Normierung, der Ein- und Ausgrenzung, der bürokratischen und sozialen Kontrolle. Dies gilt auch für den modernen Sozialstaat, wie er sich als Klassenkompromiss seit der Bismarck'schen Sozialgesetzgebung in Deutschland herausgebildet hat. Es ist m.E. wichtig, daran zu erinnern, weil sonst die Kritik der schlechten Gegenwart leicht in eine tendenzielle Glorifizierung einer fragwürdigen Vergangenheit verfallen kann. Es ist ein Teil des Kompromisshaften, dass daneben in der Sozialstaatsidee auch Gleicheitsvorstellungen, Vorstellungen von sozialen (Rechts-)Ansprüchen und Gedanken einer kollektiven, gesamtgesellschaftschaftlich-solidarischen Verantwortung für die soziale Sicherung aller existierten. Und es ist genau diese "moralische Ökonomie" des klassischen Sozialstaatsgedankens, die Definition dessen, was eigentlich "soziale Gerechtigkeit" ist, die seit einigen Jahren umkämpftes Terrain ist. Das, was sich europaweit als Umbau des Sozialstaats zu einem "aktivierenden Staat", zu einem Staat des "Förderns und Forderns" abspielt, ist nämlich mehr als die bloße Kontinuität alter repressiver Elemente. Sowohl materiell wie auch ideologisch findet hier auch ein wesentlicher Bruch statt. Dieser Bruch wäre allerdings mit "Neoliberalismus" und "Deregulierung" schlecht beschrieben (auch wenn entsprechende Elemente eine Rolle spielen). Der "aktivierende Sozialstaat" ist ein europaweites und originäres Projekt von New Labour, der neuen Sozialdemokratie. Es ist gerade eine Antwort auf die Hegemoniekrise konservativ-neoliberaler Gesellschaftsprojekte Anfang/Mitte der 90er Jahre.

Gegenüber dem Neoliberalismus betonen die Neue Sozialdemokratie und ihre ideologischen Vordenker wie etwa Anthony Giddens ausdrücklich den Sozialstaat als Bezugspunkt. Gegen soziale Desintegration wird die sozialstaatliche Integration und Reregulierung immer wieder hervorgehoben. Aber, und das ist der entscheidende Wendepunkt und Unterschied zum klassisch-keynesianischen Wohlfahrtsstaat, es ist eine soziale Reregulierung auf niedrigstem materiellen Niveau, und Integration wird als eine extrem autoritäre Zwangsintegration interpretiert. Der aktivierende Sozialstaat - inzwischen Leitmodell auch der CDU - eliminiert jede Vorstellung von sozialer Sicherung als unbedingtem und unteilbarem individuellem Anspruch. Soziale Rechte und Ansprüche ergeben sich nur aus einer vorherigen Pflichterfüllung gegenüber einer imaginären Gemeinschaft. Von "Sozialpflichten" ist im Bundesarbeitsminiterium die Rede, die gegenüber den sozialen Rechten gestärkt werden müßten. Keine Leistung ohne Gegenleistung ist das Motto dieses neuen Sozialstaates.

Aggressiv gestärkt wird vor allem die Produktivitäts- und Leistungsorientierung des Sozialstaatsgedankens sowie die Normierung nach den herrschenden Flexibilitätsanforderungen. Die Legitimität von Sozialleistungen wie Krankengeld, Rente, Arbeitslosenunterstützung oder Sozialhilfe wird untergraben: Sozialleistungen müssen sich erstmal verdient werden. Wer nur irgendwie seine Haut zu Markte tragen kann, muß dies tun; nach Arbeitsbedingungen, Löhnen und Sinnhaftigkeit der Arbeit wird nicht mehr gefragt. Im aktivierenden Sozialstaat werden nicht in erster Linie Leistungen gekürzt, sondern Erwerbslosen vielmehr Mafiaangebote gemacht, Arbeits- und Qualifizierungsangebote, die sie bei Strafe von Leistungsstreichung nicht ablehnen können. Der Sozialstaat stürzt sich sofort auf die Erwerbslosen, macht ihnen 3, 4 oder 5 Angebote, von denen eine genommen werden muss, egal wie sinnvoll sie ist, egal wie sehr sie den eigenen Neigungen und Wünschen widerspricht. In dezidierten Eingliederungsplänen werden die Rechte und Pflichten beider "Vertragspartner" festgelegt. In umfangreichen Eignungstests werden Erwerbslose durchleuchtet, werden Qualifikations- und Persönlichkeitsprofile erstellt. Dort ist dann von "Diagnosen", "Anamnesen" und "Prophylaxen" die Rede. Erwerbslosigkeit wird von einem gesellschaftlichen Problem zu einem von individuellen persönlichen Defiziten, Arbeitsmarktpolitik erscheint als medizinisch-therapeutische Zwangsbetreuung.

Soziale Leistungen ohne Gegenleistung werden allerhöchstens Alten, Kranken oder sonstwie zweifelsfrei „Arbeitsunfähigen“ zugestanden. Nur sie gelten als „wirklich bedürftig“. Für alle anderen werden Sozialleistungen ohne Arbeit oder die Verweigerung von herrschenden Normalitäts- und Flexibilitätsanforderungen in die Nähe von Delinquenz gerückt. Dies ist die Basis, auf der neue autoritäre Einschluß- und Ausschlußmechanismen gebastelt werden: Wer gehört zur Gemeinschaft der Steuerzahler? Wer hat ein Recht hier zu sein? Wessen Ansprüche an die "Solidargemeinschaft“ sind berechtigt? Und dies ist auch die Basis, von wo aus der gesellschaftliche Konsens gegen diejenigen konstruiert wird, die aus dem Verwertungsprozeß herausfallen oder ihn in Frage stellen.

Worum es gehen muss, ist die Verteidigung sozialer Ansprüche, Ansprüche an ein gutes Leben für Alle, als soziale Grundrechte, d.h. als bedingungsloses und unteilbares Recht für jeden Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Hautfarbe oder Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt. Solche sozialen Grundrechte sind Menschenrechte, die als Leitbilder und unveräußerliche Eckpunkte für eine menschliche Gesellschaft auch und gerade dann gelten, wenn sie nicht in irgendwelchen Chartas festgehalten werden. Und als Menschenrechte sind sie auch nicht gebunden an einen (Staats-)BürgerInnenstatus. Soziale Grundrechte als Menschenrechte stehen jedem Menschen qua Existenz zu. Soziale Grundrechte als Menschenrechte sollten dabei auf keinen Fall nur als Armen- oder Marginalisiertenrechte missverstanden werden. Soziale Ansprüche als Grundrechte betreffen nicht zuletzt die Frage, wie in diesem Land gearbeitet wird, wer unter welchen Bedingungen eigentlich was produzieren soll. Ansprüche und Rechte machen weder vor den Fabriktoren, noch vor den Büros, oder den Küchen und Wickelkommoden der privaten Haushalte halt. Heute für soziale Grundrechte zu streiten, bedeutet auch, Ansprüche und Rechte gegen die Zumutungen und die Gewalt einer umfassenden Flexibilisierung und ihrer "Normalität" zu verteidigen.
Der SPD-Genralsekretär Franz Müntefering meint, es sei heute normal und zumutbar, für einen Job von Mecklenburg-Vorpommern nach Bayern zu ziehen und dabei vertraute soziale Bezüge aufzugeben. Für viele Menschen mag das tatsächlich der Fall sein und vielleicht sogar mit einer Aufbruchstimmung aus provinzieller Enge verbunden sein. Okay. Aber die sozialen Ansprüche an Einkommen, Jobs und Lebensqualität von denen, die aus welchen Gründen auch immer nicht so flexibel sein wollen, sind deswegen um kein Gramm weniger berechtigt. Für das Recht, unflexibel und immobil zu sein und dennoch gut zu leben, auch das ist ein Kampf um soziale Grundrechte.


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