Junge Welt, 13.02.02 Birgit Gärtner Berufsverbote und Bauchschmerzen Hamburg: Tagung zu Folgen des »Radikalenerlasses«. Diskussion mit Ost-West-Gefälle Im allgemeinen werden Jubiläen gern begangen, doch am vergangenen Wochenende im Hamburger Curio-Haus gab es nichts zu feiern: Die Initiative »Weg mit den Berufsverboten« veranstaltete mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) eine Konferenz unter dem Titel »30 Jahre Berufsverbote mahnen: Kein neuer Grundrechtsabbau!«. Vor mehr als 30 Jahren hatten sich Politiker am Rande einer Sitzung des Hamburger Senats auf eine Pressemitteilung verständigt, in der am 23. November 1971 verkündet wurde, daß »die Ernennung zum Beamten auf Lebenszeit bei politischen Aktivitäten des Bewerbers in rechts- oder linksradikalen Gruppen unzulässig ist«. Am 28. Januar 1972 wurde diese Verlautbarung von der Ministerkonferenz, an der auch der damalige Bundeskanzler Willy Brandt teilnahm, bestätigt - Geburtsstunde des sogenannten Radikalenerlasses. Die Folgen waren fatal. Etwa 3,5 Millionen Personen wurden per Regelanfrage vom Verfassungsschutz durchleuchtet, 1250 Beamtenbewerbungen wurden abgelehnt, 11000 Berufsverbotsverfahren und 2100 Disziplinarverfahren geführt, 265 Personen schließlich entlassen. Erst 1978 wurde die Regelanfrage in den sozialdemokratisch regierten Bundesländern wieder abgeschafft, andere folgten - in Bayern gilt sie bis heute. Die meisten Betroffenen kämpfen noch immer um Rehabilitation und finanzielle Entschädigung. Mehrere Verfahren sind vor dem Europäischen Gerichtshof in Strasbourg anhängig. Der Hamburger Anwalt Klaus Dammann informierte in einer Arbeitsgruppe (AG) über den aktuellen Stand. Eine weitere AG thematisierte berufsverbotsähnliche Verfahren in Ostdeutschland. In anderen Gesprächsgruppen wurde über die Auswirkungen der sogenannten Antiterrorpakete von Innenminister Otto Schily diskutiert. Horst Bethge, Vorsitzender des Arbeitsausschusses der Initiative, wies in diesem Zusammenhang darauf hin, daß derzeit mehrere hundert ausländische Studierende in Hamburg zu »Gesprächen« bei der SOKO 011 der Polizei geladen würden. Dieser SOKO stünden etwa 150 Beamte des FBI zur Seite, so Bethge. Laut AStA der Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP) werden die - ausschließlich männlichen und nichtdeutschen - Studenten aufgefordert, Ausweisdokumente, Geburts- und Heiratsurkunden, lückenlose Studienbescheinigungen, Miet- und Arbeitsverträge, Kontoauszüge der letzten 18 Monate sowie Nachweise über Vereinsmitgliedschaften bei der Polizei vorzulegen. Die Studierenden befänden sich in einer Zwickmühle: Zwar seien sie grundsätzlich nicht gezwungen, dieser »Einladung« Folge zu leisten. Andererseits könne ihnen bei Auskunftsverweigerung die Aufenthaltsbewilligung entzogen werden, so der HWP-AStA in einem Flugblatt. Eine Konferenzteilnehmerin nannte dieses Verfahren »Inquisition, wie sie viele von uns auch über sich ergehen lassen mußten«. Auf der Konferenz wurde ein West-Ost-Gefälle deutlich. Eva-Maria Stange, Bundesvorsitzende der GEW und ehemalige Landeschefin in Sachsen, war der Ansicht, daß sich die Kolleginnen und Kollegen im Osten vom Thema nicht angesprochen fühlen, da ja klar sei, daß es um 30 Jahre Berufsverbote in der BRD gehe. Dabei sei die Lage in den neuen Bundesländern in den Jahren seit 1990 katastrophal gewesen, sagte Wolfgang Richter von der Gesellschaft für Bürgerrechte und Menschenwürde (GMB). Hunderttausende Menschen hätten aufgrund von berufsverbotsähnlichen Verfahren ihre Arbeitsplätze verloren. Der sächsische PDS-Landtagsabgeordnete und Anwalt Klaus Bartl fügte hinzu, in Sachsen würde nach einer Dienstvorschrift vorgegangen, in der 59 Berufsgruppen aufgeführt sind, bei denen die Eignung für den öffentlichen Dienst geprüft werden müsse. 75 Prozent aller Leitungsfunktionen im öffentlichen Dienst seien inzwischen mit Personal aus dem Westen besetzt worden, ergänzte Eva-Maria Stange. Klaus Dammann wandte ein, er habe Bauchschmerzen, sich mit den betroffenen ehemaligen Bediensteten der Staatssicherheit zu solidarisieren. Der Kampf gegen Bespitzelung und Verfassungsschutz sei integraler Bestandteil des Kampfes gegen Berufsverbote gewesen. Richter hielt ihm entgegen, statt das »Stasisyndrom« auch auf dieser Konferenz zu bemühen, solle er sich vergegenwärtigen, »was die Stasi überhaupt war«. Neben ganz normaler geheimdienstlicher Tätigkeit, die es in jedem Land der Welt gebe, sei beispielsweise die Staatsanwaltschaft zur Aufklärung von NS-Verbrechen Bestandteil des MfS gewesen. Um diese Fragen ausführlicher diskutieren zu können, schlug Klaus Bartl vor, ein Folgetreffen in einem der neuen Bundesländer zu organisieren.