Initiativgruppe „40 Jahre Radikalenerlass“
Klaus Lipps – Pariser Ring 39 – 76532 Baden-Baden – k.lipps@gmx.de
OFFENER BRIEF
An die Abgeordneten des Landtags von Baden-Württemberg
21.11.2012
Sehr geehrte Frau … , Sehr geehrter Herr … ,
am 28. Januar 1972 haben die Ministerpräsidenten der Länder unter Vorsitz von Bundeskanzler Willi Brandt die „Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im Öffentlichen Dienst“ beschlossen. Als Referendar hatte auch Herr Ministerpräsident Kretschmann zunächst Schwierigkeiten in den Schuldienst übernommen zu werden. Als Betroffene dieses sog. „Radikalenerlasses“ wenden wir uns an Sie, nicht zuletzt wegen der bis heute unheilvollen Nachwirkungen. Wir wünschen uns im Landtag eine ähnliche Diskussion und Beschlussfassung, wie sie in Bremen vor einem Jahr stattgefunden hat.
Der Beschluss der Bremer Bürgerschaft vom 10. November 2011 lautet:
„Die Bürgerschaft fordert den Senat [Regierung der Stadt] auf, die 'Richtlinien über das Verfahren bei Feststellung des Erfordernisses der Verfassungstreue von Bewerbern für den öffentlichen Dienst', Fassung vom Februar 1983, aufzuheben. Die Bürgerschaft [Landtag] bittet den Senat, in geeigneter Weise mit den Betroffenen einen ideellen Abschluss zu suchen.“
Dieser Beschluss wurde in Bremen mit den Stimmen aller Fraktionen einstimmig verabschiedet!
Wie der Bremer CDU-Abgeordnete Hinners in diesem Zusammenhang formulierte, war "… die damalige Praxis aus heutiger Sicht nicht rechtskonform", denn "die Unschuldsvermutung wurde … aus heutiger Sicht zumindest mit Füßen getreten". Gleiches gilt bis heute unserer Ansicht nach ebenso für die Meinungs- und Bekenntnisfreiheit und auch für Baden-Württemberg.
Denn in Baden-Württemberg findet nach wie vor ein "Belehrung und Erklärung" überschriebenes Formular aus dem Jahr 1973 Verwendung - auch in Verbindung mit neuen Tarifverträgen. In einer Verwaltungsvorschrift des Innenministeriums vom 18. Juli 2003 zur Durchführung von § 6 des Landesbeamtengesetzes ist festgelegt, wie das angeblich rechtsstaatliche Verfahren zur Einstellung ablaufen soll.
Darin heißt es: "Maßgebliches Kriterium für die Bewertung einer Partei oder Organisation als verfassungsfeindlich sind die Feststellungen des Verfassungsschutzberichts“. Damit wird ausgerechnet dem in jüngster Zeit durch viele Skandale aufgefallenen und auf dem rechten Auge nachgewiesenermaßen mehr als blinden "Landesamt für Verfassungsschutz" die Deutungshoheit überlassen!
Im Jahr 2000 beschloss der Landtag von Baden-Württemberg, die bisherige Praxis des „Radikalenerlasses“ zu überprüfen. Dennoch wurde dem Heidelberger Realschullehrer Michael Csaszkóczy 2004-2007 die Übernahme in den Schuldienst verweigert, weil er in einer Antifa-Initiative mitwirkte. Betrieben wurde dies von der damaligen Kultusministerin Annette Schavan und dem "Landesamt für Verfassungsschutz". Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg erklärte diese Ablehnung für unrechtmäßig. Das Landgericht Karlsruhe sprach dem Lehrer 2009 Schadenersatz zu.
Damit wurde gerichtlich festgestellt, dass das Verfahren eben nicht rechtsstaatlich ist, sondern dass unkontrollierbare Geheimdienst-Willkür waltet. Nicht erst seit dem Skandal der NSU-Morde ist bekannt, dass der "Verfassungsschutz" sich in nicht geringem Umfang auf "Erkenntnisse" von Personen aus der Neonazi-Szene stützt.
Mit der Landtagswahl vom 27.03.2011 hat sich die politische Landschaft in Baden-Württemberg deutlich verändert. Es ist aus demokratischer Sicht dringend geboten, im mehrheitlich "grün-roten" baden-württembergischen Landtag einen Beschluss zu fassen, ähnlich dem bremischen, der folgenden Wortlaut haben könnte:
„Der Landtag fordert die Landesregierung auf, den 'Beschluss der Landesregierung Baden-Württemberg über die Pflicht zur Verfassungstreue im öffentlichen Dienst' vom 2. Oktober 1973 und alle in diesem Sinn erlassenen und diese Praxis regelnden Verwaltungsvorschriften aufzuheben und die entsprechenden Formulare nicht mehr zu verwenden. Der Landtag bittet die Landesregierung, in geeigneter Weise mit den Betroffenen einen Weg zur Aufarbeitung, Rehabilitierung und Entschädigung zu suchen.“
Wir bitten Sie, eine Initiative für einen entsprechenden Beschluss des Landtags von Baden-Württemberg zu ergreifen und unser Anliegen in Ihrem politischen Umfeld zu unterstützen.
Über eine Rückmeldung würden wir uns freuen.
Mit freundlichen Grüßen
gez. Klaus Lipps
für die Initiativgruppe „40 Jahre Radikalenerlass“
Weitere Informationen:
- Anhang zum Offenen Brief:
Bremen: Aufhebung des Radikalenerlasses
[pdf]
- Plenarprotokoll der Sitzung der Bremischen Bürgerschaft vom 10.11.2011:
S. 362-365 Diskussion und Beschluss des Antrags der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und SPD
"Radikalenerlass in Bremen aufheben!"
[Link auf bremische-buergerschaft.de]
- a) "Belehrung und Erklärung" zur Verfassungstreue (Baden-Württemberg), 1973
(findet heute noch Verwendung)
[Scan, pdf]
b) Verwaltungsvorschrift zur Verfassungstreue (Baden-Württemberg), 2003
(in Kraft) [
pdf]
- Landtag Ba-Wü, Beschlussempfehlungen und Berichte (12. Wahlperiode)
Punkt 25: Zum Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
"Einstellung von Betroffenen des Radikalenerlasses in den Landesdienst"
[pdf]
Erste Reaktionen
Antwort kam bisher von der Tübinger SPD-Abgeordneten
Rita Haller-Haid.
Ihr Büro schrieb am 6.12.2012: "
Ihr Anliegen wird derzeit im zuständigen Arbeitskreis besprochen. Sie erhalten dann alsbald eine Antwort von zentraler Stelle."
Und nicht die Absender des "Offenen Briefes", doch den sich gegen seine "Observierung" wehrenden Gerhard Bialas ließ der Tübinger GRÜNE-Abgeordnete Daniel Lede Abal am 11.12.2012 wissen, er sei mit dem Landesvorsitzenden von Bündnis 90 / Die Grünen Christian Kühn (auch aus Tübingen) "der Meinung, dass die Zeit der Berufsverbote und geheimdienstlichen Überwachung zumindest in Baden-Württemberg ein Ende finden sollte und werden nicht locker lassen, bis wir erfolgreich sind."
[pdf-Scan des Schreibens]
Am 7. Januar 2013 antworterte der baden-württembergische Innenminister Reinhold Gall (SPD) und berief sich auf die Aussagen seines Ministerpräsidenten.
[Antwort Gall, pdf]
Die Betroffenen erinnerten ihn am 14.01.2013 umgehend daran, dass ihre Forderung lautet, dem Bremer Beispiel folgend den "Radikalenerlass" aufzuheben, und:
"Was wir Betroffene wollen und brauchen, ist eine Entschuldigung der Verantwortlichen, unsere Rehabilitierung als Staatsbürger sowie in begründeten Einzelfällen eine materielle Wiedergutmachung. Darüber hinaus sind wir – wie viele unserer Mitbürger – der Auffassung, dass der sogenannte Verfassungsschutz in seiner derzeitigen Form und Ausrichtung aufgelöst werden muss."
[Rückantwort, pdf]