Wofür Willi Geiger den Doktortitel bekam, die „fdGO“ und Vorgeschichte und Nachwirkung des KPD-Verbots

Foto rechts:

In der Eingangshalle des Bundesverfassungsgerichts in der „Residenz des RechtsKarlsruhe, in der dort ausgehängten Galerie ehemaliger Bundesverfassungsrichter und -richterinnen, befindet sich das nebenstehende Foto mit der Beschriftung „Prof. Dr. Willi Geiger“. Von 1951 bis 1977 wirkte er am Bundesverfassungsgericht. Ab 1954 war er  Honorarprofessor an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Wie er zu seinem juristischen Doktorgrad gelangte, steht nicht nur in der Wikipedia, sondern auch hier.

 

Michael Csaszkóczy: Im Räderwerk. Die gesetzlichen Grundlagen des Radikalenerlasses. Die Rote Hilfe 4-2021

 

Am 22.05.1975 fasste der 2. Senat desBundesverfassungsgerichts einen Beschluss (pdf), der jahrzehntelang zur politischen und juristischen Rechtfertigung von Berufsverboten herangezogen worden ist - immer in dem Bemühen, Neonazis und Antifaschisten begrifflich in einen Sack zu stecken. Und für die Behauptung, die Berufsverbote seien doch „vom Grundgesetz gedeckt“.

 

Die juristische Vorgeschichte dieses Beschlusses erläuterte Rechtsanwalt Klaus Dammann (1946-2020) in seinem Konferenzbeitrag vom 10.02.2002 „Berufsverbote und Europäische Menschenrechtskonvention - rechtliche und politische Konsequenzen“ (Word-Dokument). Darin geht er auch auf die Person einiger damals an entsprechenden Urteilen beteiligten Verwaltungsrichter ein.

 

Der bekannte Publizist Otto Köhler (geb. 1935) beschäftigte sich in seinem Buch „Wir Schreibmaschinentäter. Journalisten unter Hitler – und danach" ausführlich mit dem Bundesverfassungsrichter „Dr.“ Willi Geiger (1909-1994), der 1975 federführend an eben jenem Beschluss mitwirkte. „Doktor“ aus gutem Grund in Anführungszeichen!
Für Betroffene der Berufsverbote und alle, die einer Fortsetzung dieser Politik und Rechtsprechung entgegen treten wollen, aber auch für die selbsternannten „Extremismus“-Experten, sind Otto Köhlers geschliffen geschriebene Darlegungen höchst lesenswert.  Den Willi Geiger betreffenden Ausschnitt kann man hier nachlesen.

Der Rechtshistoriker Helmut Kramer (geb. 1930) zweifelt auf seiner Website schon aufgrund dessen, wie Geiger, der „alle anderen Fälle personeller Kontinuität von NS-Schreibtischtätern in den Schatten“ stelle, 1966 auf Kritik an seiner Dissertation reagierte, dessen Eignung für das Richteramt antschieden an. Eine neue Kurzbiographie Geigers - mit einem Kapitel zu seiner Rolle bei dem notorischen Berufsverbotsurteil - ist soeben im Kugelberg Verlag erschienen (ISBN 978-3-945893-08-1). In einer Ankündigung fordert Kramer vom Bundesverfassungsgericht endlich ein „klärendes Wort“ zu Geigers Rolle, zumal „die Wirkungen des mit reaktionärem Ungeist kontaminierten Extremistenbeschlusses vom 20.05.1975 bis heute fortdauern“.

 

Wie entstand und wie entwickelte sich das richterliche Verständnis der "freiheitlich-demokratischen Grundordnung", um die es bei der Berufsverbotspolitik immer geht? Hierbei spielt die juristische Vorgeschichte und Nachwirkung des 1956 vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochenen KPD-Verbots eine zentrale Rolle. Obwohl einer der beteiligten Richter, Prof. Dr. Martin Drath, auf Nachfrage klarstellte, dass es allein darum gegangen sei, „was die damalige KPD selbst als konkrete Organisation zu einer konkreten Zeit mit konkreten politischen Mitteln anstrebte“, dass es „eine Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, der Kommunismus oder der Marxismus-Leninismus seien überhaupt und allgemein verfassungswidrig, wie das allgemein angenommen wird, in Wahrheit nicht gibt“, wurden Versatzstücke des KPD-Urteils in zahlreiche Berufsverbotsverfahren eingeführt.

 

Der Münchner Rechtsanwalt Hans E. Schmitt-Lermann hat zahlreiche Berufsverbots-Betroffene in Bayern vertreten - entsprechend der in diesem Bundesland praktizierten Politik überwiegend aus dem sozialdemokratischen und friedensbewegten Spektrum - und sich in vielen demokratischen Bewegungen engagiert, natürlich auch der gegen die Berufsverbote. Über die Vorgeschichte und Praxis des „Radikalenerlasses“ referierte er (gemeinsam mit zwei Betroffenen) am 11.05.2017 in München (Youtube-Video). In einem ursprünglich 2007 gehaltenen Vortrag, dessen Text er uns exklusiv zur Verfügung stellte, erinnert er an zahlreiche wenig bekannte Tatsachen zum KPD-Verbotsprozess und Verbotsurteil (auch die Biographien der beteiligten Richter) und zieht ein persönliches Resümee. Auf Schmitt-Lermanns Initiative gehen auch die 1975/76 eingeholten 22 Gutachten über das Verfassungsverständnis einer Berufsverbotsbetroffenen zurück, die wir hier auf einer eigenen Sonderseite dokumentieren. - Auch zum 60. Jahrestag des KPD-Verbots 2016 erschienen neue Beiträge mit historischen und aktuellen Betrachtungen, wiederum von Hans E. Schmitt-Lermann (Originalbeitrag mit zahlreichen klickbaren Links), Hans-Peter Brenner (ebenfalls mit Links, aktualisiert abgedruckt in der uz vom 07.01.2022), Rechtsanwalt Ralph Dobrawa (Gotha, seinerzeit als junger Mann ein Mitarbeiter des KPD-Prozessvertreters Prof. Dr. Friedrich Karl Kaul) sowie von Prof. Dr. Ekkehard Lieberam (Marxistisches Forum Sachsen) in den Marxistischen Blättern 06-2016. Im Zuge der „drei Wellen der Kommunistenverfolgung“ ab 1956, bilanziert Lieberam, seien „Regelanfrage, Berufsverbote, Diffamierung“ die zweite gewesen. Das 2017 erschienene Buch des Historikers Josef Foschepoth drückt schon im Titel Verfassungswidrig! Das KPD-Verbot im Kalten Bürgerkrieg“ (ISBN 978-3-525-30181-4, PDF eBook 9783647301815) aus, wie er aufgrund bisher geheimer Unterlagen das damalige Verbotsverfahren einschätzt (Auszug in der jungen Welt 11.09.2017pdf). Eine gut lesbare Zusammenfassung seiner Forschungsergebnisse - die überwiegend auf bisher unbekannten Akten beruhen - hat der Autor auf seine Homepage gestellt.

 

Wer sich mit dem KPD-Verbotsurteil und seiner Vorgeschichte und den Nachwirkungen - ergänzend zu den genannten Büchern und Artikeln - anhand authentischer Quellen beschäftigen möchte, findet Material in den folgenden damals veröffentlichten, von uns eingescannten Broschüren. (Die teilweise schlechte Druckqualität auf dem heute vergilbtem Papier der Vorlagen bitten wir zu entschuldigen.)

Verfahren gegen die KPD vor dem Bundesverfassungsgericht. Die Rechtsgrundlagen. Hrsg.; Presse- Informationsamt der Bundesregierung. .o.O. o.J. (Bonn 1955), 78 S.

Weißbuch der Kommunistischen Partei Deutschlands über die ersten 6 Monate des Verbotsprozesses vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Hrsg.: Parteivorstand der KPD. Düsseldorf o.J. (1955). 178 S.: Inhaltsverzeichnis/Einleitung - - Namensliste der Beteiligten - Hauptteil - Anlagen a bis c - Anlagen d: Presseecho

Die Theorie des Marxismus-Leninismus und der Verbotsprozeß gegen die Kommunistische Partei Deutschland. Plädoyer des Prozeßvertreters der Kommunistischen Partei Deutschlands Prof. Dr. Herbert Kröger,. Humboldt-Universität Berlin, gehalten am 28. und 21. März 1955 vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Nach dem Protokoll redaktionell überarbeitet. Hrsg: Parteivorstand der KPD. 103 S.

Aus dem Angeklagten wurde der Ankläger. Schlußplädoyer von Prof. Dr. Kröger [am 12. Juli 1955]. Hrsg: Parteivorstand der KPD. 63 S.

Trotz Fälschungen der Bundesregierung und Benachteiligung durch den Senat: Die KPD wird weiterleben! Plädoyer des Prozeßvertreters der Kommunistischen Partei Deutschlands Rechtsanwalt Dr. [Friedrich Karl] Kaul Berlin, gehalten am 14. Juli 1955 vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Nach dem Protokoll redaktionell überarbeitet. Hrsg: Parteivorstand der KPD. 35 S.

Die KPD war, ist und wird sein! Schlußplädoyer des Prozeßvertreters der KPD Rechtsanwalt Dr. [Curt] Wessig. Hrsg: Parteivorstand der KPD. Dokumente aus dem Prozeß gegen die Kommunistische Partei Deutschlands. Nach dem Protokoll redaktionell überarbeitet. Hrsg: Parteivorstand der KPD. [1955], 79 S.

Über das grundgesetzliche Gebot der Wiedervereinigung. Schlußplädoyer des Prozeßvertreters der KPD Rechtsanwalt Dr. [Karlheinz] Hütsch. Dokumente aus dem Prozeß gegen die Kommunistische Partei Deutschlands. Hrsg: Parteivorstand der KPD. [1955], 32 S.

15 Männer verteidigen ihr Recht. Ein politischer Mammutprozeß vor der IV. Großen Strafkammer in Düsseldorf. Hrsg: Karl Schabrod, Düsseldorf. 1959 (2. Aufl.), 43 S.

 

Wenn im Zusammenhang mit den Berufsverboten auf die angeblich in Stein gemeißelte „fdGO“ verwiesen wird, sollte beachtet werden, dass 60 Jahre nach dem KPD-Verbot das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss 2 BvB 1/13 vom 17.01.2017 unter Punkt 535 die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ extra neu definiert hat, um die Neonazipartei NPD (vermeintlich) nicht verbieten zu müssen! (Hierauf verweist ausdrücklich auch Josef Foschepoth in der Zusammenfassung seiner Forschungsergebnisse - was freilich nur im historischen, nicht im juristischen Sinn eine „Revision des KPD-Urteils“ darstellt, dessen Wirkungen fortdauern.)

 

Wie war es möglich, dass 1968 in der Bundesrepublik Deutschland trotz Fortbestehens des KPD-Verbots eine neue legale kommunistische Partei, die DKP, sich gründen und politisch wirken konnte? Das schildert in den Marxistischen Blättern 6/2008 einer der Akteure: Herbert Mies (1929-2017), Anfang 1968 noch Politbüro-Mitglied der damaligen illegalen KPD, 1973 bis 1990 Vorsitzender der DKP. Die DKP-Neukonstituierung 1968 sei „von zwei Legenden umgeben - einer römischen und einer Bonner“; mit beiden setzt er sich auseinander. Unter anderem erinnert er daran, was am 4. Juli 1968 1968 Max Schäfer und Grethe Thiele als Beauftragte der KPD in einem Gespräch mit dem damaligen SPD-Bundesjustizminister Gustav Heinemann vorgetragen hätten: „Es gebe die Möglichkeit, wie schon viele Verfassungs- und Staatsrechtler darauf hingewiesen hätten, dass man mit einem mit einfacher Mehrheit im Bundestag zu beschließenden Gesetz zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes eine Aufhebung des KPD-Verbots bewirken könne. Änderungen dieses Gesetzes seien schon wiederholt geschehen. Heinemann widersprach dem nicht …“ – Das Bundesarchiv hat eine Auswahl dort vorhandener Quellendokumente zur Vorgeschichte der Gründung der DKP online gestellt.

 

Hannsheinz Bauer (1909-2005, Würzburg; Dr. Georg Diederichs (1900-1983); Laatzen; Prof. Dr. Fritz Eberhard (1896-1982), Berlin (West); Karl Kuhn (1898-1986), Bad Kreuznach; Dr. Elisabeth Seibert (1896-1986), Kassel:

„Wir ehemaligen Mitglieder des Parlamentarischen Rats, die wir am 23. Mai 1949 das von uns erarbeitete Grundgesetz unterzeichnet haben, sehen in der Berufsverbotepraxis, wie sie durch den sogenannten Radikalenerlaß vom 28. 1. 1972 ausgelöst wurde - auch nach den inzwischen erfolgten Korrekturen - eine Gefahr für die von uns gewollte freiheitlich-demokratische Grundordnung." Weiterlesen ...

(Hannover, 18. März 1982; abgedruckt in: Erwin Siemantel, H.-D. Wohlfarth (Hg.): Der Fall Hans Peter. Entlassung eines „Verfassungsfeindes“. Dokumentation + Analyse. Eingeleitet von Ulrich Klug. Köln: presseverlag ralf theurer, 1982 (rechtspolitische schriften 1). ISBN 3-8161-0101-1)

 

Eine bemerkenswerte Rede „Berufsverbote und kein Ende“ – mit vielen Informationen und viel Selbstkritik – hielt der Sozialdemokrat Joist Grolle (geb. 1932) am 3. Februar 1988 vor dem Konzil der Universität Oldenburg (die heute nach dem Antifaschisten Carl von Ossietzky (1889-1938) benannt ist). Der Historiker Grolle – 1968-78 Professor in Oldenburg, danach in Hamburg, auch GEW-Mitglied – war 1972-76 Staatssekretär und dann Wissenschaftsminister in Niedersachsen und gestaltete dort die Umsetzung des „Radikalenerlasses“ mit. 1980-87 war er Präses der Hamburger Schulbehörde und in dieser Eigenschaft zeitweise Vorsitzender der Kultusministerkonferenz. Die SPD war in dieser Zeit von der Berufsverbote-Politik bereits weitgehend abgerückt, die sie 1971 in Hamburg noch vor dem „Ministerpräsidentenbeschluss“ eingeführt hatte. Grolle kann also als wirklicher „Insider“ für das Thema gelten.

 

Über eine spezielle Sumpfblüte des antikommunistischen Eifers in der alten Bundesrepublik informiert der folgende Artikel aus dem Schwäbischen Tagblatt Tübingen, 26.06.2015:

Lizenz zum Spionieren und Denunzieren (pdf-Scan): Basierend auf der Master-Arbeit des Verfassers wird der „Volksbund für Frieden und Freiheit“ in Tübingen vorgestellt. Von dem Nazi-Propagandisten Eberhard Taubert (1907-1976, Drehbuchautor von „Der ewige Jude“) gegründet, wirkte der VFF in den 1950er und 1960er Jahren und diente sich „dem Innenministerium ... als eine Art privater Geheimdienst an“. Der dort tätige Klaus Hornung (geb. 1927) wirkte von 1962 bis 1987 an der damaligen Pädagogischen Hochschule Reutlingen. Oft haben Betroffene aus jener Region sich gefragt, an welchen Strukturen und Personen es liegen könnte, dass speziell diese „Stadt der verbotenen Lehrer“ sich den Ruf einer „Hochburg des Berufsverbots“ einhandelte.